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 Digitalradio: Privatradios in Niedersachsen (2/3) |  |
Mitte 2019 sorgte der Landtag durch einen von der FDP beantragten Beschluß gegen DAB+ für erhebliches Befremden. Der Vorgang zeigt, wie mangelnde Kompetenz und Aufrichtigkeit politische Entscheidungen bestimmen können. Es dauerte jedoch keine zwei Jahre, bis sich gerade die Privatradios gegen den Landtag stellten und die Einführung von DAB+ einforderten.
Als einziger Landtag Deutschlands (und mit Sicherheit weit darüber hinaus) setzte Niedersachsens Politik DAB+ Widerstand entgegen. Dafür wurden längst überholte Zahlen herangezogen: Mittels Angaben zur Haushaltsausstattung mit DAB+-Empfängern aus dem Digitalisierungsbericht von 2016 wollte man DAB+ 2019 kleinreden und als Randerscheinung und „Übergangstechnologie“ abqualifizieren.
Der Beschluß von 2019, den die FDP auslöste und die Koalitionsfraktionen von CDU und SPD sowie die AFD mittrugen, hatte Kopfschütteln in der Medienpolitik und Fragen nach der Kompetenz der Parlamentarier ausgelöst. Die Fachwelt zeigte den buchstäblichen Mittelfinger. Radiounternehmer sahen ihre Geschäftsmodelle unter staatlicher Bevormundung.
Lobby-Landtag will die Verbreitungswege reglementieren
Der zu dem Zeitpunkt aktuelle (auch schon fast ein Jahr alte) Digitalisierungsbericht 2018 nennt 14,1 Prozent - also einen Anstieg um etwa 40 Prozent in zwei Jahren gegenüber den 10,1 Prozent, mit denen die FDP argumentiert hatte. Nicht zuletzt straften die Niedersachsen selbst „ihre“ Parlamentarier Lügen. Denn die Haushaltsausstattung stieg nochmals kräftig. Der Digitalisierungsbericht 2019 meldet für Niedersachsen einen Anstieg um sage
und schreibe 55 auf 21,8 Prozent! Mit Sicherheit wird keine der beteiligten vier
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DAB+-Ausstattung. Grafik: Audio Trends 2022 (klickbar). |
Parteien bei den nächsten Wahlen diese Wählerausstattung erreichen.
Eine Forderung des Palamentsbeschlusses ist aber hervorzuheben und unbedingt zu unterstreichen:
„Radio ist technologieneutral zu betrachten und muss dort empfangbar sein, wo die Hörer sind.“
„Technologieneutral“ gegen DAB+, für 5G?
„Radio ist technologieneutral zu betrachten“ - gerade das ist aber ein Widerspruch des Beschlusses. Denn ein paar Zeilen weiter wird gefordert, sich „zugunsten des Aufbaus zukunftsoffener Technologien, wie z.B. des 5-G-Standards, einzusetzen“. 5G ist tatsächlich, was den Hörfunk betrifft, äußerst offen. Das zeigen Stellungnahmen von Fachleuten weiter unten.
Heftige Kritik konnte nicht ausbleiben. Der Verband APR mit 290 Radio-Mitgliedern verwahrte sich gegen eine gesetzlich verordnete Abschaltung von Vertriebswegen und gegen eine Schädigung der Investitionen der bei DAB+ beteiligten Radiosender. Es seien „technologieneutral alle Vertriebswege offenzuhalten“, deren Nutzung die Programmanbieter für geboten halten. „Auf welche Technologie ein einzelnes Unternehmen für sich setzt, wird weder vom Verband vorgegeben, noch ist das Aufgabe der Politik.“
Breite Fachkritik: 5G ist nicht für das Radio gedacht
Die Debatte beschäftigte sich auch mit den Möglichkeiten des 5G Mobilfunks für die Radioverbreitung. Die 5G Media Initiative, ein Verband der Technik-Lobby, trat den von Politikern und Lobby geschürten Illusionen entgegen. „Die speziellen Anforderungen des Hörfunks an die Verbreitung seiner linearen Inhalte, wie z.B. flächendeckende Versorgung und Regionalisierung, werden durch die Einführung von 5G-Broadcast nicht automatisch erfüllt.“
Nicht zuletzt geht es auch um das Geschäftsmodell des Mobilfunks. Die 5G-Ini erinnert daran, dass es beim Testprojekt 5G Today in Bayern darum geht, „free-to-air-TV-Angebote auf Endgeräte wie Smartphones, Tablets und in Fahrzeuge zu bringen“. Die Betonung liegt dabei einerseits auf TV bzw. Fernsehen und andererseits auf „free-to-air“ - also dem Empfang ohne Wegezoll á la la Kabel. Das Geschäftsmodell des (5G)-Mobilfunks besteht aber gerade im Verkauf von Bandbreiten an die Nutzer. Das Konzept des Empfangs ohne Aufpreis steht dem entgegen.
Eine wissenschaftliche Arbeit am Institut für Rundfunktechnik hatte schon 2017 das Thema aufgegriffen. Der Auor geht auch auf die Forderung vieler Radio-Veranstalter nach einem Rückkanal ein, über den Hörer direkt mit Werbung angesprochen werden sollen. Der Rückkanal benötige aber viele kleine Funkzellen, was das Investment und die Betriebskosten auf Sender- wie auf Hörerseite verteuert.
5G macht alles noch komplizierter, weil es sich nicht - wie bei Kabel oder Antenne - nur um einen Anbieter handelt, der den Transport der Programme zu den Hörern verantwortet. Bei 5G werben vier konkurrierende Anbieter um Kunden für ein Paket aus Telefonie, Internet und dann eben auch Radio. Es geht letztlich auch darum, ein von den einzelnen Mobilfunkanbietern unabhängiges („Sim free“) Mindestangebot an Programmen zu sichern. Gebraucht werden Regelungen, um einen Wegezoll auf Radioprogramme zu verhindern und dieses Basis-Programmangebot zu gewährleisten. Dafür hat sich die Politik - trotz zahlreicher Hinweise aus Fachkreisen - bisher nicht interessiert.
Nicht zuletzt: 5G etc. sehen die Mobilfunkunternehmen als Möglichkeit, die terrestrische Verbreitung von Hörfunk und Fernsehen unter ihre Kontrolle zu bekommen - dieser Markt fehlt noch ihn ihrem Portfolio.
Ohne Standardisierung und Frequenzen geht ohnehin nichts
Mit einem 5G-Standard für das Radio sei überhaupt erst zu rechnen, wenn das 5G-Fernsehen am Markt funktioniert, so die 5G Media Initiative. Selbst das bedeute noch lange nicht, dass 5G Radio automatisch zu Erfolg werden wird.
Die erwähnte Entwicklung technischer Standards für die Radioverbreitung über 5G müsste - so der Stand Ende 2019 - überhaupt erst angegangen werden. Und es müsste - wie 5G - ein Welt-Standard werden. Im nächsten Schritt müssten Chips und Endgeräte enwickelt werden. Nicht zuletzt müsste Frequenzen zuerst auf internationale Ebene festgelegt und dann zwischen den Staaten koordiniert werden. Dass kann Jahre dauern.
Wie war das noch: Radio „muss dort empfangbar sein, wo die Hörer sind“. Bis der erste Hörer Radioprogramme über 5G hören kann, wird es noch lange dauern. DAB+-Radios stehen zu dem Zeitpunkt bereits millionenfach in den Wohnungen.
Angriff auf die Staatsverträge?
Schon ein paar Tage nach dem Beschluß wollte vor allem die FDP nicht wirklich geschrieben haben, was da zu lesen stand. Es gehe ihr darum, DAB+ nicht aus dem Rundfunkbeitrag zu enfernen, versuchte Fraktionschef Stefan Birkner die Gemüter zu beruhigen: Man wolle DAB+ doch gar nicht abschaffen, sondern bloß die Finanzierung von DAB+ aus dem Rundfunkbeitrag verhindern. Soll der aus dem Rundfunkbeitrag finanzierte NDR von der digitalen Verbreitung abgeschnitten werden? Das wird schwierig.
Der NDR arbeitet auf Grundlage eines Staatsvertrages mit der Bundesländer Niedersachsen, Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern. Will Niedersachsen aus dem NDR-Staatsvertrag aussteigen?
DAB+ und dessen Finanzierung ergibt sich für die ARD-Anstalten und Deutschlandradio aus den Rundfunkstaatsverträgen. Will Niedersachsen da aussteigen? Dazu reichte der Mut nicht.
Der Landtag brüllt, die DAB+-Karawane zieht weiter, ...
Der nicht im Parlament vertretenen Linkspartei blieb es vorbehalten, das Thema auf den Punkt zu bringen. Die Landesvorsitzende Heidi Reichinnek erklärte: „Anstatt die privaten UKW-Radio-Sender vor Wettbewerb zu schützen sollte die Förderung von DAB+ weiter fortgesetzt werden.“
Der NDR erinnerte Mitte August 2019 an den NDR-Staatsvertrag und den dort formulierten Auftrag an den NDR, seine Programme auch auf diesem Sendeweg anzubieten, denn „ein anderer vergleichbarer digitaler Verbreitungsweg wird mindestens mittelfristig nicht zur Verfügung stehen.“ Der Auftrag an den NDR umfasst darüber hinaus, die Programme NDR Plus, NDR Blue und NDR InfoSpezial zusätzlich zu den UKW-Wellen zu produzieren und digital-terrestrisch zu verbreiten. „Insofern wird der NDR seine geplanten DAB+ Ausbaupläne weiter umsetzen“.
... sogar die Landesregierung verweist auf Isolierung Niedersachsens ...
Im Dezember 2019 nahm die Landesregierung, wie vom Landtag verlangt, Stellung zum Beschluß. Gegen ihre eigenen und die Oppositions-Fraktionen machte die GroKo-Regierung die Situation deutlich, in die der Landtag (mit ihrer eigenen Mehrheit) das Bundesland manövriert hat - auch wenn der Begriff „Isolierung“ nicht verwendet wird: Angesichts der „ausdrücklich gegenteiligen Äußerungen aus dem Kreise der Bundesländer“ sei „derzeit nicht ansatzweise erkennbar, dass sich für den niedersächsischen Vorschlag eine Mehrheit finden lässt“. Der Landtagsbeschluß habe „aktuell keine Folgen in Bezug auf DAB“.
Interessanterweise begannen die großen privaten Radioveranstalter aus Niedersachsen mit der Demontage des Landtags-Beschlusses, wenn auch außerhalb des Bundeslandes: Radio FFN sendet bereits seit 2017 für Hamburg, Antenne Niedersachsen seit Anfang Mai 2020. Noch größer ist der Andrang im Bremen Privat-Mux, der auch das niedersächsische Umland mit versorgt. Neben FFN und Antenne (seit 11/2020) sind dort die Nordseewelle, Radio 90.4 und Radio21 auf DAB+ präsent.
... während viele Privatradios im „Ausland“ über DAB+ neue Hörer suchen ...
Insgesamt wird Mitte 2021 ein Trend deutlich: Immer mehr vor allem größere Radiounternehmen suchen neue Märkte. So hat sich beispielsweise Radio 21, das sich mit einem Regionalkonzept für DAB+ im Nachbarland NRW beworben hat. Das haben auch FFN und Sendergruppen u.a. aus Bayern und Berlin getan.
Der Hintergrund ist einfach und nachvollziehbar. (Nicht nur) Die Niedersachsen-Radios gewinnen in Hamburg und Bremen über DAB+ ein Potenzial von zusammen rund 2,5 Mio. zusätzlichen Hörern. Mit 24,1 Prozent ist die Haushaltsausstattung mit DAB+-Radios in Bremen laut Digitalisierungsbericht Audio 2020 überdurchschnittlich.
Die DAB+-Versorgung der Stadt-Bundesländer (erst recht bezogen auf die erreichbaren Einwohner) günstiger ist als die der Fläche Niedersachsen: In Bremen nutzen die Privatradios zwei, in Hamburg nur einen Senderstandort.
Im Kampf um neue Hörer kann UKW so gut wie keinen Beitrag leisten, denn es gibt kaum freie Ressourcen. Das Ergebnis der strategischen Überlegungen der Radiomacher wird am Beispiel der Grafik von Radio 21 deutlich. Dafür nimmt man in Kauf, dass DAB+ weiteren Wettbewerbern den Zugang zum Publikum öffnen und die Konkurrenz um Werbebudgets stärker wird.
Für die Stadtstaaten funktioniert das super. Zum Vergleich: Für die Versorgung der rund 8 Mio. Niedersachsen setzt der NDR Mitte 2021 23 Sendeanlagen ein, weitere vier sind bis Jahresende geplant. Die meisten neuen Anlagen sind Füllsender, um den Empfang innerhalb von Gebäuden zu ermöglichen. Das geht ins Geld.
... und bald nicht nur im „Ausland“?
Nach dem Sprung von 2019 war der DAB+-Gerätebestand im Bundesland laut Digitalisierungsbericht 2020 um weitere 10 auf 23,9 Prozent gestiegen. Demnach standen Mitte 2020 rund 934.000 Geräte in den Haushalten (siehe klickbare Grafik). Deutlich wird damit, wie sich das Zitat aus dem Landtags-Beschluß, Radio wolle (und muss) „dort empfangbar sein, wo die Hörer sind“ auch 2020 gegen seine Autoren wendet. Denn das wirkliche Leben straft den Beschluß angesichts der Zahlen längst Lügen.
Verantwortlich sind freilich immer die anderen: So zeigte sich Stefan Birkner (FDP, Initiator des Beschlusses) im Mai 2021 im Landtags-Unterausschuß für Medien verwundert über Beschwerden über die Landesmedienanstalt, die keine DAB+-Frequenzen vergeben wolle. Das stände doch gar nicht in dem Landtags-Beschluß: Erst schreit man laut Finger Weg! - und dann zeigt man mit dem Finger auf die, die sich dran halten!
2021: Wie der Alltag den Landtag überholt
Angesichts dieser vor dem Start des Bundesmuxes 2 und dem Beginn der Hybridradiopflicht erhobenen Zahlen marschiert die DAB+-Karawane weiter. Neues ergab sich nicht zuletzt aufgrund der 2021 eingeleiteten Novelle des Landesmediengesetzes. Im Vorfeld veranlassten einige private Radioveranstalter eine Studie, um Daten zu den Kosten (also der Finanzierbarkeit) regionaler Ensembles zu ermitteln.
Die Ergebnisse der Studie (und die allgemeine Marktentwicklung sowie die Hybridradio-Vorschrift der EU) scheinen die Privatradios angespornt zu haben. Ein Interessenverband privater Radios wurde gegründet.
Harald Gehrung, Chef der FFN-Radiofamilie, sprach sich im Sommer 2021 vor dem Landtag unter den veränderten Umständen für DAB+-Engagements der Privaten in Niedersachsen aus.
Den Digital-Anschluß nicht verpassen
Ab Juni 2021 beschäftigte sich der Landtag mit einer Novelle des Landesmediengesetzes. Die Staatskanzlei teilte dazu mit, „dass die privaten Veranstalter offenbar erwägen würden, eine DAB+-Plattform in Niedersachsen auf den Weg zu bringen. Die Landesmedienanstalt habe sich mit diesem Wunsch der Privaten an die Staatskanzlei gewandt.“ Die Regierung stellte - im Gegensatz zu besagtem Beschluß - ihre Unterstützung für einen landesweiten DAB+-Mux ebenso deutlich in Aussicht wie die Absage an finanzielle Förderungen. Zugleich wurde auf die Medienanstalt verwiesen, die selbst erst auf Grundlage des neuen Gesetzes aktiv werden wolle.
Der Entwurf der Staatskanzlei stieß in einem Punkt auf Widerspruch der Kommerzradios: Dass Plattformbetreiber bzw. Sendenetzer die Bürgerradios kostenlos verbreiten sollen sei einerseits unrealistisch, andererseits ein Affront gegen die Kommerzradios. Sie müssten ihr Doppel-Engagement finanzieren, ohne Zusatzeinnahmen erwarten zu können. Diesen Streitpunkt beseitigten die GroKo-Fraktionen Anfang Februar 2022 durch einen gemeinsamen Änderungsantrag.
Bei der Finanzierung des Doppelauftritts sind die finanziell stark reglementierten NKLs (Werbeverbot) daher auf Förderungen angewiesen. Dafür gibt der §30 Abs.1 des neuen Mediengesetzes der Medienanstalt NLM weitgehenden Spielraum, u.a. für eine Unterstützung der Verbreitungskosten. Interessanterweise sind Zuschüsse ausdrücklich an die Entwicklung der Einnahmen der NLM gebunden. Die kommen wesentlich aus dem Rundfunkbeitrag. Und diesen möchten (nicht nur) die Niedersachsen-Koalitionäre gerne senken. Förderung im Widerspruch - offen bleibt Anfang 2022, wie und mit welchen Mitteln die NLM den Einstieg der Bürgerradios bei DAB+ unterstützen wird.
Sendebeginn Ende 2022/Anfang 2023 möglich?
„Ein realistischer Termin für die Inbetriebnahme wäre dann Ende 2022/Anfang 2023“, hatte ein Vertreter der Staatskanzlei im Julí 2021 vor dem Landtags-Ausschluß für Medien eingeschätzt. Daran schloß Herr Gehrung an: Verabschiedet der Landtag das Mediengesetz wie geplant am 23. Februar 2022, sei eine Ausschreibung im 1. Halbjahr 2022 möglich. Die Medienanstalt NLM folgte diesen Einschätzungen und beschloß am 31. März 2022 die Ausschreibung.
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