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DAB+ - EWF und Lehren aus den Krisen (1/3)

Digitalradio-Schriftzug ab 5/2107 Das systemische Versagen der Kriseninformation beim bundesweiten „Warntag“ im September 2020 und der Ausfall von Telekom- und Mobilfunk während der Ahrtal-Katastrophe befeuerten die Debatte um die Rolle des digitalen Rundfunks in Notsituationen. Insbesondere geht es um die Einbeziehung von DAB+ und seiner für solche Situationen geschaffenen Emergency Warning Functionality (EWF).

Die Hochwasser-Tragödien in Rheinland-Pfalz und NRW und der riesigen Waldbrände in Südeuropa des Sommers 2021 zeigen - nach der Pleite des „Warntags“ 2020 - erneut, dass in Deutschland das Warnsystem nicht funktioniert. Dieses stützt sich vor allem auf Mobilfunk und Internet. So holte Bundesinnenminister Seehofer, ganz im Sinne der Telekom-Lobby, regional gestreute Massen-SMS (Cell Broadcasting) nach zehn Jahren wieder aus der technischen Mottenkiste. Wenn jedoch, wie in den Katastrophenregionen geschehen, diese Netze wegen Unterbrechungen der Signal-Zuführung und/oder Ausfall der Stromversorgung zusammenbrechen, taugen manche Ansagen der Politik nicht einmal für deren Selbstbeweihräucherung.

Rundfunk ohne Störung und gegen Fakenews

Tatsächlich bleibt der Rundfunk - DVB-T2 HD, DAB+ und UKW - in der Krise die einzige wirklich stabile Quelle. Denn die Sendeanlagen und die Studios des Radios und Fernsehens - zumindest der öffentlich-rechtlichen Stationen - sind mit leistungsstarken Notstromversorgungen ausgestattet. Funktürme werden störungsfrei über Satellit oder Richtfunk versorgt. Und von dort aus werden die Sendungen und eben auch Behörden-Infos verbreitet. Was von dort und mit großem Vertrauen in die Redaktionen kommt steht auch gegen jene Verbrecher, die in den betroffenen Gebieten gezielt Fakenews verbreitet haben.

Dies stellte eine im August 2021 begonnene Debatte der Fachwelt heraus. Dass dabei vielfach die Vorteile von EWF beschrieben werden, liegt auf der Hand. Aufgrund der konkreten und leidvollen Erfahrungen des Sommers 2021 nannten Fachleute auch beim Namen, was zu tun ist, um den Rundfunk als den sichersten Teil des Informationssystems für Krisenfälle aufzustellen.

Die politischen Mühlen mahlen leider nicht nur langsam. Wie man am Beispiel Cell Broadcasting sieht, hat der Rundfunk wohl auch nicht die erforderliche Lobby in den Ministerien. Erstaunlicherweise spielen Schlußfolgerungen aus den jüngsten Umweltkatastrophen bei uns und anderswo im Bundestags-Wahlkampf kaum eine Rolle, hat es den Anschein.

Hochwasser-Tragödie bestätigt Rundfunk als Plattform für Krisenkommunikation

Die Flutkatastrophen in NRW und Rheinland-Pfalz des Jahres 2021 haben leider gezeigt, wie notwendig der Rundfunk als ausfallsicheres Kommunikationsmittel für die Behörden ist.

Wenn „mehr als 90 Prozent der Mobilfunkstationen in den Krisengebieten“ und ein zentraler Festnetzknoten ausfallen (Telekom) und „151 Funkstationen“ (Vodafone) nicht arbeiten, funktionieren weder Cell Broadcasting noch Apps und Websites in den Gebieten, wo Information Not tut. Erst nach zwei Wochen konnten die Netzbetreiber Mobilfunk und Festnetz mit Leistungseinschränkungen in Gang bringen.

Einmal mehr erwiesen sich dagegen UKW und DAB+ als krisenfest. Zumal portable Radios mit handelsüblichen Batterien betrieben werden. Sie nutzen im Gegensatz zu Smartphones keine speziellen Akkus, die am Ende der Betriebszeit während eines Stromausfalls nicht geladen werden können.

Im Gespräch mit Deutschlandradio beschrieb Martin Voss, Leiter des Arbeitsbereiches Katastrophenforschung an der FU Berlin, den Anspruch an den Rundfunk so:
Bei entsprechenden Naturereignissen erwartet man eben über das Radio am schnellsten, die Informationen zu bekommen, die man dann auch im Alltag gut gebrauchen kann. Also idealerweise auch gleich zu hören: Was soll ich denn eigentlich tun?
Mit Radio erreichen Sie schnell Millionen von Menschen, und das muss auch sichergestellt werden.

Als Beispiele für die Notwendigkeit zu handeln nennt Voss ausdrücklich die Spannweite von einer Dimension á la Tschernobyl bis zu lokalen Ereignissen wie einem Amoklauf.

EWF verpflichtend standardisieren und senderseitig einführen

Das Digitalradio Büro fasste schon Ende Juli 2021 erste Erkenntnisse mit Bezug auf die Aufgaben des Radios im Notfall und EWF zusammen:
EWF kann nur dann funktionieren, wenn es als gemeinsamer Standard implementiert wird. (...) Wir befinden uns derzeit im engen Austausch mit Geräte-Herstellern und Chip-Produzenten über wichtige technische Details bezüglich einer möglichen Standardisierung. Die starken Regenfälle und Hochwasser der vergangenen Wochen bieten dazu einen erneuten Anlass (...). Ginge es nur nach unseren Wünschen, wäre EWF deshalb schon längst in DAB+ breiter implementiert. Wir arbeiten weiter daran, gemeinsam mit dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, dem Fraunhofer Institut und anderen Mitgliedern des Vereins Digitalradio Deutschland EWF zu einem integralen Bestandteil der Schutzkonzepte und Warndienste zu machen.

Georg Rose ist Geschäftsführer der für den Einsatz während der Flutkatastrophe vom Deutschen Radiopreis ausgezeichneten NRW-Lokalstation Radio Wuppertal. Er äußerte sich ausführlich zur Rolle der Privatradios im Krisenfall. U.a. hob er die Möglichkeiten von DAB+ und der EWF hervor. Rose verband das mit konkreten Vorschlägen an die Politik. „Gerade den kleinen Stationen muss bundesweit finanziell geholfen werden, neben UKW auch über DAB+ zu senden zu können“, kommentiert Rose. Hier seine in zehn Punkten formulierte kritische Bestandsaufnahme des Systems der öffentlichen Kriseninformation im Wortlaut:
  1.Radio muss als integraler Bestandteil des Deutschen Katastrophenschutzes begriffen werden.
  2.Lokale Radiostationen benötigen eine leistungsfähige Notstrom-Versorgung für Redaktionen und Senderstandorte sowie eine sichere Funk- oder Satellitenverbindung zwischen beiden.
  3.Lokale Radiostationen benötigen Unterstützung beim Umstieg auf DAB+ bzw. für den Simulcast-Betrieb.
  4.Die Redaktionen benötigen mobile Technik, um 24/7 auch außerhalb der üblichen Arbeitszeiten sofort mobil ins Programm gehen zu können.
  5.Eine nationale Kampagne muss die Menschen über „Radio als Lebensretter“ aufklären.
  6.Fragen der Barrierefreiheit von Warnmeldungen müssen beantwortet werden.
  7.Radio-Redaktionen müssen sich für Krisensituationen verbindlich zu sofortiger umfassender Reaktion in ihren Programmen verpflichten.
  8.Das MoWas-System ist oft zu langsam, zu zögerlich, zu unzuverlässig, zu ungenau – es muss dringend reformiert werden; die MoWas-Meldungen bedürfen eines auf den ersten Blick verständlichen Designs.
  9.Die direkte Kommunikation mit den Medien als Warnmultiplikatoren wird von am Katastrophenschutz Beteiligten zunehmend unterschätzt und vernachlässigt – das muss sich dringend ändern.
10.Es muss verbindlich eine klar definierte Informationskette eingeführt werden, damit die Redaktionen schon on air sind, wenn Warn-SMS herausgehen und Sirenen heulen.

Die Integration in den DAB+-Standard betrifft natürlich ein Gesamtsystem aus allen sinnvollen Techniken für möglichst viele Szenarien. Das betrifft auch Vorschläge, die - wie das „Rebranding“ - erst nach dem Statement von Herrn Wolf bekannt wurden.

„Anfangen, machen, anstatt weiter zu diskutieren!“

Diese dringende Aufforderung von Olaf Korte sollten sich die Branche und die Politik zu Herzen nehmen. Aus Sicht des Gruppenleiters für Anwendungen des digitalen Rundfunks im Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen (IIS), das an der Entwicklung von EWF führend mitwirkte, forderte er: Die Senderseite sollte entsprechend ausgebaut werden. Dies „idealerweise mit vollautomatischer Anbindung an MoWaS, um eine Warnverzögerung auf eingeschalteten Empfängern von unter 10 Sekunden garantieren zu können“. Weil EWF die behördlichen Infos gesprochen wie auch als Lauftext und mehrsprachig - und kombiniert mit Bildmaterial - verbreiten kann, „hilft dies Hörbehinderten und Fremdsprachlern, die Warnung zu verstehen“.

Die im DAB+-Standard als optional beschriebenen EWF-Funktionen müssten zur Pflicht gemacht werden, um auch die Integration in die Empfangsgeräte zu bewirken. Korte erinnerte an die riesigen Waldbrände des Sommers 2021 in Südeuropa, die ein internationales bei der Standardisierung auslösen.

Auch 5G Broadcast ist krisensicher

Mit einer umfangreichen Argumentation erinnerte die ARD Ende August 2021 vor der Bundesnetzagentur daran, dass eine künftige Rundfunkverbreitung nach dem 5G Broadcast-Standard alle Vorteile der Verbreitung nach der DVB-Standardfamilie übernimmt - vor allem die Betriebssicherheit. Die Grundlagen müssten geschaffen werden, um diese - auch für Krisensituationen wichtigen - Vorteile des Systems Broadcasts in künftige Verbreitungsstandards zu übernehmen.

Nach Ansicht der ARD sorgt schon die Implementierung des Standards in Radio- und Fernsehgeräte wie auch in Smartphones, die bei Nichtnutzung im Standby gehalten werden, für eine extrem hohe Reichweite. Das sollten sich die Behörden zunutzen machen. Grundsätzlich sind dafür die Entkopplung von Mobilfunk und Rundfunk samt freiem Zugang zu 5G Broadcast-Diensten erforderlich. Der „Empfang ohne SIM-Karte sowie ohne Authentifizierung, so dass es keine Abhängigkeit von einem Mobilfunk-Netzbetreiber“ sei daher das Gebot eines künftigen Übertragungssystems für den Rundfunk. Das Papier für die Bundesnetzagentur stellt außerdem heraus:
Es werden die gleichen Frequenzen wie im aktuellen terrestrischen Fernsehen mit der Möglichkeit einer ausfallsicheren Sendetechnik genutzt. Es kann damit alles, was im Fernsehen an Informationen verfügbar ist (Informationen aus dem Krisengebiet, Reportagen, Hilfeaufrufe, Sofortmaßnahmen, Anlaufstellen, Grafiken, Bilder etc.), und darüber hinaus Datendienste (zum Beispiel Signale für Warn-Apps) an die betroffene Bevölkerung zuverlässig übertragen.
Anders als beim Mobilfunk werden bei 5G-Broadcast datenintensive Informationen ohne eine Überlastung des Netzes an alle im Sendegebiet erreichbaren Geräte gleichzeitig ausgeliefert. Für eine perspektivische Einführung von 5G Broadcast und die damit verbundenen Möglichkeiten zur Katastropheninformation werden die heute für das terrestrische Fernsehen (DVB-T2) genutzten Frequenzen in vollem Umfang für den Rundfunk gebraucht.

Bundesbehörde hat andere Absichten

Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) orientiert hingegen trotz aller Erfahrungen weiterhin auf die Fest- und Mobilfunknetze der Telekoms. Dies betrifft zum Einen die Einführung des SMS-Rundsendedienstes Cell Broadcast - also einer Mobilfunkfunktion. Die scheidende Bundesregierung brachte Ende November eine Verordnung zur Einführung von Cell Broadcast auf den Weg, die durch im Bundesrat binnen weniger Tage verabschiedet wurde. „Diese Technologie ermöglicht es, im Katastrophenfall schneller Warnungen über Mobilfunknetze zu verbreiten - eine Lehre aus dem verheerenden Juli-Hochwasser.“ Diese Erläuterung des Bundestages ist angesichts der Mobilfunkausfälle während der Hochwasser-Krise unverständlich.

Zum Anderen beschäftigte sich die BBK 2021 intensiv mit der vom Verkehrsfunk entwickelten Funktion „Emergency Alerts and Warnings“ (TPEG2-EAW). Dessen Erprobung sei „Ende September 2021 erfolgreich abgeschlossen“ worden, ließ die Behörde verlauten und will die aktualisierte Spezifikation beim ISO weltweit standardisieren lassen.

TPEG2-EAW soll laut der Behörde sowohl über DAB+ als auch über Mobilfunk mehrsprachige Informationen in Navigationssysteme einspielen können, die es freilich noch nicht im Handel gibt. Datenquelle sei das vom BBK geführte Modulare Warnsystem (MoWaS).

2022: Warnverfahren im Doppeltest

Die Medienanstalt BLM und Partner starteten am 4. Mai 2022 einen Vergleichstest von EWF- und TPEG2-EAW-Daten über DAB+ in den Großräumen München und Nürnberg. Während des auf zwei Jahre angesetzten Versuchsprojektes werden die Ausbildungsradios M94,5 (München) und Max Neo (Nürnberg) der Mediaschool Bayern im DAB+-Block 10D gesendet. Geeignete DAB+-Radios sollen das laufende Programm unterbrechen, um z.B. Sprachdurchsagen und Lauftexte der Behörden durchzuschalten. Die Lauftexte sollen zugleich auf öffentlichen Anzeigetafeln visualisiert werden. Entsprechendes gilt für die Verarbeitung von Daten durch Navigationsgeräte mit Datenempfang über DAB+ oder Mobilfunk.

Eine erste Aufschaltung des Dienstes wurde am 20. Oktober 2022 gemeldet.

8. Dezember 2022: Zweiter Warntag wird Zwischenbilanz ziehen

Am 8. Dezember 2022 wollen die Innenministerien von Bund und Ländern und das BBK einen zweiten Test des Gesamtpakets der Warnverfahren erneut erproben. Mit großen Worten Anfang 2022 die Einführung der Mobilfunktechnik Cell Broadcast bekannt gegegeben. Wie sich wenige Monate später zeigte, sind die behördlichen Massen-SMS aber erst nach einer Änderung der Richtlinie und „pätestens im Februar 2023 verlässlich einsatzbereit“.

Warnfunktionen standardisieren und implementieren

Nägel mit Köpfen will im 2. Halbjahr 2022 der Verein Digitalradio Deutschland machen und - gemeinsam mit Programmveranstaltern, Medienanstalten und Netzbetreibern - die internationale Standardisierung von Warnmeldungen vorantreiben. Als Grundfunktion wird - zusätzlich zu Tonsignalisierung und Sprachdurchsagen - die Aktivierung von Radios aus dem Standby genannt. Später soll die Barrierefreiheit verbessert werden und fremdsprachliche und erweiterte Textinformationen (über die DAB+--Funktion Journaline) möglich sein.

Erste Geräte werden bereits auf der Funkausstellung 2022 gezeigt, so der Verein. Sie sollen einfache Alarmdurchsagen wiedergeben. Bis zur vollständigen Umsetzung könnten aber zwei bis drei Jahre für Entwicklungen und Implementierungen vergehen. Schon für 2023 plant der Digitalradio-Verein „eine gemeinsame Vermarktung des DAB+ Warndienstes, in Abstimmung mit Bund und Ländern, weiteren Marktteilnehmern und dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe“.

Things to come ...

Links zum Thema:
EWF-Homepage.
Hintergrund TPEG2-EAW (9/2021).
APR-Positionspapier (2/2022).
Testalarm erfolgreich auch über DAB+ (12/2022).
DAB+ am Warntag in Bayern, Sachsen-Anhalt (12/2022).
DAB+ verbessert den Bevölkerungsschutz (11/2022).
SMS an alle Mobilfunkkunden (11/2022).
Warnschleife im Bayern-Testnetz aktiv (10/2022).
Warnkanal für DAB+ in der Einführung (9/2022).
2. Warntag am 8. Dezember (7/2022).
Zweijahrestest mit Warnverfahren ist gestartet (5/2022).
Cell Broadcast wird überarbeitet (8/2022).
APR-Position zu Behördeninfos im Radio (2/2022).
BNetzA gibt Cell Broadcast frei (2/2022).
Bund schiebt Cell Broadcast an (11/2021).
Neues Warnsystem 2022 im Vergleichstest (10/2021).
Radio zum Lebensretter ausbauen u. propagieren (8/2021).
5G Broadcast: Katastrophenschutz über TV-Ressourcen (8/2021).
Neue Funktion für Krisen-Information (8/2021).
Nichts geht ohne das Radio (7/2021).
DAB+ beim „Warntag“ erfolgreich im Einsatz (9/2020).

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